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Matreus
Unter der Oberfläche

 

 

Unter der Oberfläche

 

Silke strich sich nervös durch das blonde Haar. Was um Himmels willen tat sie eigentlich hier? Warum stand sie als erwachsene Frau mitten auf einer Lübecker Straße herum und hörte sich die Fantasiegeschichten kleiner Kinder an? Hatte sie nichts Besseres zu tun? Sie war hierher gekommen, um seriöse Ahnenforschung zu betreiben, und stattdessen vergeudete sie ihre Zeit mit haarsträubenden Geschichten über einen angeblichen Verwandten, der seit fünfhundert Jahren sein Unwesen in oder unter der Stadt treiben sollte. Wie lächerlich!

„Es tut mir leid...“ Sie versuchte, nicht allzu unhöflich beim Abwimmeln der vier Kinder zu sein. „Es tut mir wirklich sehr leid, das klingt ja alles wahnsinnig spannend, aber ich habe einen wichtigen Termin im Rathaus. Also... tschüss!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging, fest entschlossen, sich nicht umzudrehen und die Kinderstimmen hinter sich zu ignorieren: „Bitte gehen Sie nicht! Bitte warten Sie, Frau Wullenwever!“
Sie war standhaft geblieben und den lästigen Kindern entkommen. Im Lübecker Rathaus hatte sie der Bürgermeister persönlich empfangen und bereitwillig Auskunft über ihren berühmt-berüchtigten Vorfahren, seinen mittelalterlichen Amtsvorgänger, gegeben. Nachdenklich hingen Silkes grüngraue Augen am Porträt Jürgen Wullenwevers. „Armer Kerl“, meinte sie, „wurde er tatsächlich geköpft und seine Leiche hinterher noch gevierteilt?“ Der Bürgermeister lächelte verlegen: „Nun ja, er galt als Verräter. Sein Verhalten war nicht besonders ehrenhaft.“ Silke zog die Brauen zusammen, was ihr stets einen finsteren Ausdruck verlieh. „Es war auch nicht ehrenhaft, ihn so zu behandeln“, beharrte sie, „und wenn Sie das als gerecht empfinden, müssten wir heute mit einem Großteil unserer Politiker so verfahren.“ Der Stadtvater lächelte gequält: „Da mögen Sie natürlich recht haben.“

Im Archiv verbrachte Silke lange Zeit über den alten Dokumenten. „Ich bin also tatsächlich eine Nachfahrin des berühmten Wullenwever“, schloss sie nach dem Vergleich der Urkunden mit ihren eigenen Unterlagen, „wissen Sie, ob ich die einzige bin? Tatsächlich bin ich nämlich ein Einzelkind und zumindest in Hamburg sind mir keine weiteren Verwandten bekannt. Demnach läge die Verantwortung, die Wullenweverschen Gene weiterzuvererben, allein bei mir. Was für ein Gedanke!“ Sie lachte leise. Der Bürgermeister hob die Schultern: „Ich weiß es nicht. Der Sage nach gab es noch einen anderen Zweig von Nachfahren, doch das ist historisch nicht belegt. Sie, verehrte Frau Wullenwever, stammen von Jürgen Wullenwevers ehelichem Sohn ab. Er soll aber auch noch einen unehelichen gehabt haben, mit seiner Magd. Das Kind soll Franz Olte geheißen haben, doch seine Spur verliert sich in den Unterlagen. Wir wissen nicht, was aus ihm wurde, falls er denn überhaupt existiert hat.“ Er lachte herablassend: „Angeblich spukt er noch heute herum und will Rache für den Tod seines Vaters nehmen. Doch falls Sie Interesse an diesen Ammenmärchen haben, müssen Sie sich bitte andere Informanten suchen. Ich befasse mich ausschließlich mit historischen Fakten.“ Silke schien aus ihren Gedanken hochzuschrecken: „Wie? Äh,... ach ja. Natürlich. Danke, ich glaube, ich habe meine Informanten bereits gefunden.“ „Wie meinen?“ Der Bürgermeister sah ihr verwundert nach, als sie eilig das Rathaus verließ.
„Warum sind Sie zurückgekommen? Und wie haben Sie uns gefunden?“ Silke hielt Ottis bohrendem Blick stand. „Ich bin zurückgekommen, weil eine zuverlässige Quelle mir bestätigt hat, was ihr erzählt habt. Es interessiert mich. Und ich musste euch ja nicht groß suchen, ihr seid selbst auch zu dem Ort zurückgekehrt, wo wir uns getroffen hatten. Wusstest ihr, dass ich zurückkehren würde?“ „Nein. Wir haben es gehofft.“
„Wir sollten nicht noch mehr Zeit vertrödeln“, warf das ältere Mädchen ein, „kommen Sie bitte mit uns, dann können wir Ihnen beweisen, dass die Geschichte kein Ammenmärchen ist!“ „Ihr macht mich wirklich neugierig, ihr vier. Ich komme mit.“

Im Haus, wo die vier merkwürdigen Kinder lebten, sah Silke mit eigenen Augen, wie sie durch den Spiegel verschwanden, umhüllt von giftgrünem Nebel, und wie sie später in der benachbarten Scheune wieder auftauchten. Sie hielt das Zauberbuch in ihren eigenen Händen und spürte die Macht, die von ihm ausging. Ein Zittern durchrieselte ihren Körper. „Ich glaube euch“, flüsterte sie schließlich, „auch wenn ich dafür vielleicht in der Irrenanstalt lande. Dieser Zanrelot,... er haust wirklich unter dieser Stadt, nicht wahr? Und dieser schwarze Magier ist tatsächlich mit mir verwandt?“ Die beiden Jungen, Otti und Pinkas, nickten ernst. Das kleinere Mädchen, Leo, schaute Silke eindringlich an und sagte: „Ja. Sie haben dieselben Augen. Leuchten die auch, wenn Sie wütend sind?“ Silke lachte: „Ich weiß nicht. Vielleicht? Meine Freunde sagen, ich sähe furchteinflößend aus, wenn ich sauer bin.“ Sie setzte einen bewusst finsteren Blick auf. „Ja, das tun Sie“, bestätigte Karo, das größere Mädchen, „aber das giftgrüne Leuchten haben Sie nicht in den Augen. Sie sind ja auch nicht voller Hass, oder?“. „Nein.“ Silke lächelte und augenblicklich war der düstere Ausdruck von ihrem Gesicht verschwunden. Otti hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und betrachtete sie kritisch. „Nein“, stellte er fest, „keinerlei grünes Leuchten, auch nicht um sie herum. Es ist nichts Böses oder Magisches an ihr.“
Nachdem die vier Wächter ihr ausführlich erklärt hatten, was es mit ihnen und mit Zanrelot und seinen Helfern auf sich hatte, sagten sie ihr, welche Aufgabe sie ihr zugedacht hatten. Sie sprang auf: „Ich? Nein! Wie kommt ihr gerade auf mich?“ Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann setzte sie sich wieder und bemühte sich um eine etwas ruhigere Tonlage: „Warum soll gerade ich für euch Zanrelot vernichten? Warum macht ihr das nicht selbst? Was hab denn ich damit zu tun? Warum ich?“ „Weil Sie seine einzige lebende Verwandte sind“, antwortete Otti. Er verschwieg Jona, den Sohn, doch der konnte ihnen nicht mehr von Nutzen sein. Silke rieb sich die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. „Ja, richtig, er ist mein Verwandter. Umso absurder ist das Ganze! Warum sollte ich meinen eigenen Verwandten vernichten?“ „Weil Sie nicht ernsthaft wollen, dass er die Stadt und vielleicht die Welt zerstört, nicht wahr?“ erwiderte die kleine Leonie und blickte sie flehend an. Silke senkte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, flüsterte sie, „gibt es denn keinen anderen Weg?“ „Nein“, erklärte Karo, „den Zauber, den wir planen, kann nur eine Blutsverwandte ausführen. So steht es im Zauberbuch. Hier!“

Am nächsten Tag stand Silke vor dem magischen Spiegel, beide Hände krampfhaft um die Fläschchen in ihren Hosentaschen geklammert. Das eine enthielt den Stärkungstrank, der ihr im Notfall helfen sollte, das andere den Liebestrank. Den Liebestrank, der kränken und töten sollte. Ihr war, als brannte er in ihrer Hand, als wehrte er sich gegen diesen Missbrauch seiner Bestimmung.
Ihr wurde schwindelig, als sie in den Sog der Schleuse gezogen wurde. Sie wirbelte durch einen Tunnel aus Finsternis und grünem Licht. Dann fand sie sich im Halbdunkel wieder und irrte durch verschlungene Gänge, bis sie in einen düsteren Raum geriet, in dessen Mitte ein Computerterminal unter einem augenförmigen Metallbogen und einer Wolke aus grünem Leuchten stand. Dies musste das Herz der Unterwelt sein, Zanrelots Zentrale. Bewundernd blickte Silke sich um. Auch nach den Schilderungen der Kinder hatte sie sich diesen Ort nicht so beeindruckend vorgestellt. „Zanrelot?“ rief sie, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte. Dann noch einmal lauter: „Zanrelot!“
„Er bevorzugt die Anrede ‚Meister’“, riet ihr eine spöttische Stimme von hinten. Sie wirbelte herum und erblickte einen jung aussehenden Mann. Dies musste Zanrelots Diener sein. „Matreus!“ „In der Tat.“ Er deutete eine Verbeugung an. Doch als er sich wieder aufrichtete, wurde sein niedlicher Dackelblick plötzlich hart und kalt. „Was willst du von meinem Meister?“ fragte er argwöhnisch und eifersüchtig. „Nichts Böses“, versicherte Silke, „ich bin seine Verwandte.“
„Nichts Böses?“ fragte eine samtene Stimme aus dem Hintergrund, „wie schade!“ Ein Mann löste sich aus dem Dunkel, in dem ihn das Schwarz seines langen Mantels perfekt verborgen hatte. Das schwache Licht des Raumes fing sich in seinem silberhellen Haar und seinen leuchtend grünen Augen. Silke hielt den Atem an. Es war keine Frage, sondern Gewissheit, als sie hauchte: „Zanrelot!“
Er trat langsam näher, mit den lautlosen, geschmeidigen Bewegung eines Raubtiers, umkreiste sie und kam dicht vor ihr zum Stehen. Er lächelte, leicht spöttisch und doch charmant. Als er die linke Hand hob, sah sie den einzelnen, langen, grünen Fingernagel am kleinen Finger. Seine Geste war pure Eleganz, als er ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich, um ihr ungehindert in die Augen zu sehen. „In der Tat“, murmelte er, „meine Augen. Es wäre möglich.“ Irrte sie sich oder sah sie einen Anflug von Sehnsucht in seinem Blick? „Ich habe selten Gäste“, sagte er und klang merkwürdig müde, „und noch seltener... Verwandtenbesuch! Meine Eltern haben mich sträflich vernachlässigt, seit meine Mutter an der Pest starb und mein Vater ermordet wurde. Und mein Sohn... Reden wir nicht davon. Matreus, deck den Tisch für unseren Gast! Vom Feinsten, hörst du?“
Der junge Mann wand sich in einem inneren Kampf. Er wollte den Befehl seines Meisters nicht missachten, doch alles in ihm sträubte sich dagegen. „Meister!“ stieß er hervor, „traut ihr nicht! Wer sagt Euch, dass sie wirklich Eure Verwandte ist?“ „Wir werden es nach dem Mahl überprüfen“, erwiderte Zanrelot ruhig, „doch unabhängig davon soll sie unsere Gastfreundschaft genießen. Wer sich freiwillig zu mir begibt, soll es nicht bereuen.“
Im Handumdrehen hatte Matreus eine festliche Tafel in die Zentrale gezaubert. An einem Ende des langen Tisches saß Silke, ihr gegenüber, am anderen, Zanrelot. Matreus hielt sich demütig und dienstbereit im Hintergrund. Silke fühlte sich wie eine Fürstin, so stilvoll war das ganze Ambiente, so charmant der Gastgeber und so anregend das Gespräch. Und doch wusste sie, dass sie wachsam bleiben musste, dass all das nur fauler Zauber war und dass sich hinter der ausgesucht höflichen Fassade höchste Gefahr verbarg. Sie spielte dennoch gern mit.
Silke lehnte sich zurück, mehr als gesättigt von den erlesenen Speisen. Ihr Gastgeber hatte währenddessen nichts als eine grüne Flüssigkeit aus einem gläsernen Pokal zu sich genommen. Er lächelte ihr zu und seine Augen glühten im Kerzenlicht wie die einer Katze. „Ich glaube, es wird Zeit für die Probe, auf der Matreus besteht“, sagte er mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme, „ein kleiner Ausflug wird uns Gewissheit verschaffen. Seid Ihr bereit?
“Ohne Zögern hatte Silke der Zeitreise zugestimmt, in der Gewissheit, die Wahrheit gesagt zu haben. Jedenfalls in dem Punkt, seine Verwandte zu sein. Er wollte ja nicht ihre andere Behauptung überprüfen: dass sie nichts Böses im Schilde führte. Sie versuchte sich einzureden, dass auch ihr Plan nichts Böses sei, da er je letztendlich dem Guten diente. Aber heiligte der Zweck wirklich die Mittel? Sie verdrängte den quälenden Gedanken und konzentrierte sich auf den Augenblick. Der eben noch ‚jetzt’ war und plötzlich fünfhundert Jahre zuvor.
Sie fand sich im lärmenden Gewühl einer mittelalterlichen Schänke.
Um sie herum fremde, rohe Menschen, vom Bier berauscht, johlend und pöbelnd. Ein stämmiger Mann in bunter, zerlumpter Kleidung fasste ihr grob ans Gesäß und lachte ordinär. „Zanrelot?“ fragte sie ängstlich in die Menschenmenge hinein. Zanrelot, als wäre er der Richtige, um ihr zu helfen! Immerhin, der einzige vertraute Mensch in dieser fremden Umgebung. „Ich bin ja bei dir“, hörte sie ein zartes Stimmchen. Nicht seine Stimme, viel zu hoch, und sie kam von viel zu tief unten. Silke beugte den Kopf und sah einen schmächtigen Jungen mit langem, feinem, blondem Haar und blassem Gesicht. In seinen grüngrauen Augen erkannte sie Klugheit und Trauer und viel zu viel Wissen für ein Kind. „Komm!“ forderte er sie auf, „ich zeige dir den Weg nach draußen.“ Sie ergriff seine schmale Hand und ließ sich fortziehen. Doch auf halbem Wege zur Tür stellte sich ihnen der breitschultrige Wirt in den Weg. „Verfluchter Bastard!“ herrschte er den Jungen an, „spielst du schon wieder herum, statt die Gäste zu bedienen? Warte nur, dich werd ich lehren!“ Er schlug dem Kind so derb mit der Faust ins Gesicht, dass es der Länge nach hinfiel und ihm das Blut aus Mund und Nase tropfte. Silke schrie entsetzt auf, doch sie konnte nicht eingreifen. Grobe Hände hatten sie gepackt und hielten sie fest. „Wer ist das?“ herrschte der Wirt den Jungen an und deutete auf sie, „auch so eine Hure wie deine Mutter?“ Die grüngrauen Augen des Jungen flammten im purem Grün auf vor Zorn. „Meine Mutter war keine Hure!“ schrie er, „sie war eine ehrbare Magd!“ Der Gastwirt lachte hässlich: „Ja, so ehrbar, dass sie unserem feinen Herrn Bürgermeister einen Bastard gebar! Gott hat sie gestraft, durch die Pest. Und wenn er deinen Herrn Vater nicht auch bald straft und zu sich holt, dann werden wir selbst dafür sorgen!“ Er versetzte dem Kind einen Tritt. Der Kerl, der Silke gepackt hatte, ließ von ihr ab, um seinem feinen Freund zu helfen und auf den Jungen einzuprügeln. „Lauf!“ wisperte der, „Silke, lauf nach draußen! Ich komme nach, ich finde einen Weg.“ Sie zögerte, wollte lieber bleiben und ihm beistehen. Doch in dem Blick des kleinen Kerls lag etwas, das keinen Widerspruch duldete. Silke rannte los, durch die gaffende Menge und die offene Tür, und ließ ihn zurück.
Er führte sie zu einem Haus etwas außerhalb der Stadt. Es war stattlicher als die armseligen Behausungen, die sie auf dem Weg dorthin zu sehen bekamen. Das Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben. In regelmäßigen Abständen war sie von Löchern, vielleicht Schießscharten, durchbrochen, die Einblicke in den Garten erlaubten. Sie spähten hindurch und sahen einen bärtigen Mann mit auffälliger Knollennase und einen sehr jungen Mann an seiner Seite. „Das sind mein Vater und mein Bruder“, erklärte Silkes kleiner Begleiter und verbesserte sich gleich darauf: „Halbbruder.“ Seine Züge verbitterten sich bei diesem Wort. „Vaters ehelicher Sohn. Er will nichts von mir wissen. Mein Vater aber schon! Auch wenn ich nicht bei ihm wohnen kann und in der Schänke arbeiten muss, aber er kommt mich besuchen. Er sagt, ich sei etwas Besonderes. Alle anderen... na ja, du hast es ja gesehen.“ Sie nickte verständnisvoll. „Mein Vater ist alles, was ich habe“, flüsterte der Junge, „aber böse Menschen wollen ihn umbringen. Wenn sie das tun, beschützt mich niemand mehr. Es ist sehr schwer, seit meine Mutter tot ist, aber wenn er auch noch weg wäre, dann...“ Er brach ab, als ob er es sich lieber gar nicht vorstellen wollte.
Silke wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Das Kind tat ihr leid und sie wollte es so gern trösten. Aber konnte sie das? „Niemand wird deinen Vater töten“, murmelte sie, obwohl sie nicht überzeugt davon war. Nach dem, was sie bisher von den hiesigen Leuten gesehen hatte, waren die zu allem fähig. Der Junge blickte sie an und sein Gesicht veränderte sich. Es war immer noch das des Kindes, aber mit einem Mal wirkte es noch wissender und es klang sehr endgültig, als er sagte: „Doch, das werden sie. Sie werden meinen Vater töten und mich verfolgen und jemand wird...“
Weiter kam er nicht, denn plötzlich wurden die beiden hinterrücks angegriffen. Flink wie ein Wiesel rettete sich der Junge auf einen Baum, doch Silke wurde von zwei starken Armen gepackt. „Wen haben wir denn hier?“ fragte eine heisere Stimme, „den Bastard des betrügerischen Bürgermeisters und... hm, ich frage mich, ob du seine neue Mätresse bist. Die Mutter seines nächsten Bastards, hä? Doch den wird er nicht mehr zeugen, so viel Zeit bleibt ihm nicht mehr!“ Er drehte ihr die Arme nach hinten, dass sie vor Schmerz aufschrie. „Dich nehm ich mit zu meinen Freunden“, beschloss er, „dann sollen die mal ihren Spaß mit dir haben, nicht immer nur Wullenwever! Und du, Bastard, wo auch immer du dich versteckst, hör gut zu: Bald komme ich wieder, mit vielen Leuten! Dann töten wir deinen sauberen Vater! Und dann dich!“ Er lachte roh und stieß Silke vor sich her zu seinem Pferd, das in der Nähe angebunden war. Doch bevor er mit seiner zappelnden Beute zwei Schritte vorwärts gekommen war, traf ihn jäh etwas Schweres so hart am Kopf, dass er besinnungslos zu Boden sank und seine Gefangene loslassen musste. Ächzend erhob sie sich und half auch dem Jungen auf. Er rieb sich das Steißbein, mit dem er auf dem Kopf des Schergen gelandet war. Trotz ihrer Blessuren beeilten sich die beiden, vom Ort des Geschehens wegzukommen.
„Danke!“ japste Silke, als sie weit genug entfernt waren. „Bitte“, entgegnete der Junge, „sei froh. Mein späteres Ich hätte das nicht getan.“ Sie sah ihn verständnislos an: „Dein späteres Was? Wovon redest du, wer bist du überhaupt?“ Er grinste. „Du bist nicht besonders helle, was? Wie möchtest du mich denn nennen? Franz Olte? Meister? Zanrelot?“ Sie starrte ihn an. „Du...?“ „Ja, ich. Wer sonst? Schließlich sind wir eigens in meine Vergangenheit gereist, oder?“ Sie ging in die Hocke, nahm das Kind an beiden Schultern und sah ihm prüfend ins Gesicht. „Ja, schon... Aber... Du bist so... anders.“ 

Er fixierte sie mit seinem durchdringenden Blick. „Anders? Kunststück! Ich war damals zehn Jahre alt. Das ist fünfhundert Jahre her. Was erwartest du? All das ist wirklich passiert. Sie haben meinen Vater auf die grausamste Weise umgebracht. Sie haben Jagd auf mich gemacht. Aber jemand hat sich meiner angenommen: der Schwarze Abt. Er hat mich vieles gelehrt: Magie, schwarze Magie, das sogenannte Böse. Ich nenne es: Macht; die Fähigkeit, sich zu wehren; Rache; meine Form von Gerechtigkeit.“
Silke senkte den Kopf. Ihr war wieder eingefallen, auf welcher Mission sie sich befand. Sie sollte Zanrelot vernichten, bevor er die Welt vernichten würde, aus Hass. Aus allzu verständlichem Hass...
Der junge Zanrelot ließ ihr nicht viel Zeit zum Nachdenken. „Wir müssen zu meinem Vater“, drängte er. „Was? Bist du verrückt? Dieser Kerl ist vielleicht wieder aufgewacht und wenn wir Pech haben, sind seine Freunde auch nicht weit.“ Doch er beharrte: „Nur um die Probe zu machen, sind wir hier. Wir nähern uns dem Grundstück von der anderen Seite. Komm!“

Was hatte er bloß vor? Tatsächlich gelang es ihnen, unbemerkt auf der gegenüberliegenden Seite die Mauer zu erklimmen und in den Garten hinabzuspringen. „Und jetzt?“ fragte Silke, die immer noch keinen Sinn in der Aktion sah. Zanrelot nahm sich nun endlich die Zeit, es ihr zu erklären: „Du hast gesehen, dass ich mit meinem früheren Ich verschmolzen bin. Das konnte ich nur, weil wir blutsverwandt sind. Nun, in diesem Fall so eng verwandt, wie man nur sein kann: Wir sind eins.“ Er deutete auf seinen Vater und seinen Halbbruder, die immer noch in ihr ernstes Gespräch vertieft waren und die Eindringlinge nicht bemerkt hatten. „Wenn du wirklich von ihm abstammst, kannst du mit ihm verschmelzen. Das ist die Probe. Du musst dich nur ganz fest auf ihn konzentrieren und die Zauberworte sprechen: ‚Imago imaginis’. Verstanden?“
Silke nickte, doch sie hatte ihre Zweifel. Nicht an der Wahrheit ihrer Abstammung, doch daran, dass ihr ein Zauber gelingen würde. Da aber Zanrelot, auch als kleiner Junge, sehr überzeugend sein konnte, tat sie brav wie geheißen. Sie richtete ihren Blick und all ihre Gedanken auf ihren Vorfahren und stieß dann die magischen Worte hervor: „Imago imaginis!“ Ein unbeschreiblich seltsames Gefühl überkam sie. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper, als würde Sekt statt Blut durch ihre Adern fließen. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Für ein paar Augenblicke waren ihre Sinne und Gedanken getrübt. Dann kam sie wieder zu sich – und war nicht mehr da! Doch, sie war da, aber dort, wo sie noch eben gestanden hatte, war Zanrelot allein, weit weg von ihr. Ihr gegenüber stand dessen Halbbruder. Und sie... fühlte sich seltsam anders, ungewohnt groß und breit und stark. Fremde und eigene Gedanken mischten sich in ihrem Kopf. Silkes Pläne und Ängste und die Sorgen eines Fremden. Eines Mannes aus einer anderen Zeit, der um sein Leben fürchten musste. „Du musst fliehen.“ Sie fühlte die Worte aus ihrem eigenen Mund kommen und es war doch nicht ihre Stimme. Sie klang tief und voll. Entgeistert griff sie sich an den Mund – und spürte einen Bart. „Flieh!“ sprach die fremde Stimme aus ihr weiter, „ich komme nach, sobald ich Franz in Sicherheit gebracht habe.“ „Nein!“ rief der junge Mann ihr gegenüber aufgeregt, „flieh mit mir, Vater! Lass den Bastard! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ Sie – er – was auch immer – schüttelte den Kopf: „Niemals. Er ist mein Sohn wie du und ich setze große Hoffnungen auf ihn. Ich werde nicht ohne ihn gehen.“
Ein Teil von ihr wusste genau, dass Franz – Zanrelot – ganz in der Nähe war. Der andere Teil spürte es nicht, obwohl sie in die Richtung des Jungen blickte. Der junge Mann entfernte sich wütend und sie, nun wieder innerlich ganz Silke, nur äußerlich Mann, ging hinüber zu ihrem kleinen Begleiter. „Zanrelot“, sprach sie eigene Worte mit fremder Stimme, „nun hast du deine Probe gehabt, jetzt lass uns...“ Er unterbrach sie. Pures Entsetzen lag in seinem Blick und seine Stimme klang verzweifelt, als er ausrief: „Oh, Silke! Was hast du getan?“ Sie spürte Empörung in sich aufsteigen. „He, ich hab nur getan, was du verlangt hast! Ich bin mit ihm verschmolzen. Du siehst, er ist wirklich mein Vorfahr.“ Er schlug die Hände vor die Stirn und stöhnte: „Ja doch! Du hast die Probe bestanden. Aber du solltest dich mit meinem Halbbruder vereinen, nicht mit meinem Vater!“ Sie blickte ratlos drein. „Na und? Spielt das eine Rolle? Beide sind meine Vorfahren.“ „Schon“, seufzte er, „nur ist dies kein sehr günstiger Zeitpunkt, mein Vater zu sein...“
Jetzt hörte und sah sie es auch. Ihr Feind von vorhin hatte seine Freunde geholt: Die Häscher des Bischofs von Braunschweig kamen herangalloppiert, verstärkt durch eine Anzahl wütender Lübecker Bürger. Keinen Augenblick zu früh hatte Wullenwevers ehelicher Sohn die Flucht ergriffen. Aber Jürgen – Silke – Wullenwever war noch da, das Ziel ihres Hasses. Und Zanrelot, Franz Olte, der nicht minder verhasste Bastard des Bürgermeisters. Doch ihn übersahen sie ganz, denn er war nicht zugegen gewesen, als all dies geschah. „Ich bin eigentlich in der Schänke“, erklärte er ihr, „ich erfahre erst vom Tod meines Vaters, wenn alles vorbei ist. Aber du steckst leider noch eine halbe Stunde lang in seinem Körper fest. Vorher lässt sich der Zauber nicht lösen, er verklingt von allein.“ Er sah sie bedauernd an, während seine Umrisse immer mehr verblassten. „Tut mir leid, ich kann nicht länger bleiben, weil ich ja nicht hier bin. Und ich fürchte, diese halbe Stunde könnte recht entscheidend sein für dein weiteres... ähm... Leben.“ Sie verstand mühelos, wie deplaziert das Wort ‚Leben’ an dieser Stelle war. Zanrelots grüne Augen waren das Letzte, was sie von ihm sah, bevor er sich völlig in Nebel aufgelöst hatte und die Männer sie fortrissen.  
Eine Panik nie gekannten Ausmaßes erfasste sie. So also fühlte sich Todesangst an. Wenn das der Zustand war, in dem Zanrelot aufgewachsen war, konnte sie seinen Hass auf die Welt verstehen. Nie hatte sie einen solchen Zorn verspürt, wie auf diese Männer, die sie brutal vorwärts stießen. Wie gern hätte sie ihnen all die Schläge und Tritte, Schmähungen und Drohungen heimgezahlt, doch sie war wehrlos. Und Wut gepaart mit Ohnmacht ist das Allerschlimmste.
Als sie schließlich in ein finsteres Kerkerloch geworfen wurde, hätte sie nicht sagen können, wie lange das Martyrium des Weges gedauert hatte. Es war ihr wie eine höllische Ewigkeit erschienen und doch musste sie befürchten, dass die entscheidende halbe Stunde längst nicht verstrichen war.
Sie erhob sich mühsam, ungeachtet ihrer trostlosen Verzweiflung und all der schmerzenden Stellen an ihrem Körper. Ihrem fremden, männlichen Körper. Weit oben gab es selbst in diesem finsteren Verlies einen kleinen Lichtschimmer, ein vergittertes Fenster. Sie zog sich mit letzter Kraft daran hoch, nur um in einiger Entfernung die Männer zu sehen, die ihre Hinrichtung vorbereiteten. Der Block, auf den sie ihren Kopf legen sollte und der Henker mit Kapuze und Beil waren schon da. Gleich würden sie sie holen!

Plötzlich verdunkelte sich die Öffnung. Im nächsten Moment sah sie ein Gesicht am Fenster. Zanrelot! Der Junge war zurückgekehrt. Mit gehetztem Blick sah er zwischen ihr und dem Henker hin und her. Silke konnte sich nicht länger halten, ließ das Gitter los und glitt auf den kalten Steinboden. Sie schaute hinauf in das Gesicht des Kindes. „Zanrelot!“ ächzte sie, „wie kannst du hier sein? Du hast gesagt, du kannst nicht da sein, wo du damals nicht warst...“ Er räusperte sich. „Nun, ähm,... da hatte wohl mein späteres Ich die Überhand über mein früheres gewonnen. Sie wechseln sich ab.“ Er rieb verlegen die Fingernägel am Aufschlag seiner Jacke. „Um die Wahrheit zu sagen, ich kann durchaus sein, wo ich will. Ich wollte aber nicht da sein, um mitgefangen zu werden oder mitzuerleben, wie mein Vater...“ Er verstummte. „Jetzt bist du ja da“, seufzte sie, „nun hol mich aber hier raus! Schnell!“
In seine grünen Augen trat wieder dieser bedauernde Blick, aber sie konnte sich nicht mehr sicher sein, ob er echt war oder gespielt. „Es tut mir leid, das kann ich nicht. Das kann ich wirklich nicht. Es wäre auch fatal, meine eigene Vergangenheit zu ändern. Glaubst du, ich hätte nicht längst den Tod meines Vaters auf diese Weise rückgängig gemacht, wenn das so einfach wäre? Doch wenn ich das Schicksal meines Vaters verändere, gefährde ich die Existenz all seiner Nachkommen in der Zukunft. Meine,... auch deine.“

Das konnte doch alles nur ein verrückter Traum oder ein schlechter Film sein! Verflucht, sie wollte hier raus! Aus diesem Kerker, aus diesem Körper und aus dieser Zeit, wo alle wahnsinnig waren! „Zanrelot!“ schrie sie, „es ist mir ziemlich egal, was aus meiner Zukunft wird, solange ich die sichere Aussicht habe, in wenigen Augenblicken geköpft zu werden! Verdammt, hilf mir!“

„Das Unvermeidliche wird geschehen“, sagte er mit einer Ruhe, die sie in den Wahnsinn trieb. Machte er das mit Absicht? Verfluchter, kleiner Dämon! Für einen Moment hatte sie das Gefühl, das Ganze sei ein Spiel für ihn. Doch als er weitersprach, hörte sie das kaum merkliche Zittern und die ungeweinten Tränen aus seiner Kinderstimme heraus. Zanrelot mochte der Welt erzählen, was er wollte, es war ihm auch in fünfhundert Jahren nicht gelungen, die von ihm so geschmähten menschlichen Gefühle loszuwerden! „Sie werden meinen Vater töten“, wisperte er, „ich kann es nicht aufheben.“
Er tat ihr leid, aber noch viel mehr tat sie sich momentan selbst leid. Sie begann hemmungslos zu schluchzen. „Du kannst es wirklich nicht aufheben?“ „Nein. Aber vielleicht aufschieben. Bis du diesen Körper verlassen hast.“ Neue Hoffnung durchflutete sie jäh. „Ja? Tu das! Oh, ja, ja, ja, tu das!“ Er blickte voller Hass und Verachtung auf sie herab. „Ja, ja! Dann bist du froh! Was aus meinem Vater wird, ist dir ganz egal!“ „Er... Es ist fünfhundert Jahre her“, wandte sie zaghaft ein. „Nicht für mich“, entgegnete er verbittert, „in mir ist es ewige Gegenwart.“
Er riss sich zusammen und wandte sich brüsk von ihr ab. „Ich lenke sie ab.“ Entschlossen schritt er auf den Hinrichtungsplatz zu, wo sich bereits eine Menge geifernder Gaffer eingefunden hatte. Silke konnte nicht anders, als zu denken: ‚Mutiger, kleiner Kerl!’ Sie biss sich auf die Lippe, als der Henker und die Meute auf ihn aufmerksam wurden. Für einen Moment vergaß sie, dass auch ihr eigenes Leben von seinem Erfolg abhing und konnte nur hoffen, dass ihm nichts passierte. Im nächsten Augenblick schalt sie sich für ihre eigene Unlogik, denn der Sinn dieses ganzes Abenteuers war, Zanrelot zu vernichten. Welchen Sinn machte es, das Überleben des Kindes zu wünschen, nur um später den Mann zu töten? Und doch hätte sie dem Jungen nicht ein Haar krümmen können, wenn man es von ihr verlangt hätte.
Wütende Stimmen schrien durcheinander: „Wullenwevers Bastard!“ „Ergreift ihn!“ „In den Kerker mit dem Bengel!“ „Ach was, gleich mit aufs Schafott, den kleinen Satansbraten!“ Silke schrie mit ihrer Männerstimme auf, als mehrere Hände nach ihm griffen. In diesem Schrei brach nicht nur ihre eigene Angst um sich und Zanrelot aus ihr heraus, sondern auch die verzweifelte Sorge des liebenden Vaters um seinen Sohn. Jemand lachte roh. „Habt ihr das gehört? Der alte Wullenwever schreit in seinem Loch nach seiner Brut! Los, murksen wir den Jungen zuerst ab, das ist eine nette Zugabe für den Alten!“ Doch Zanrelot entwischte den Händen, die ihn fangen wollten. „Verflucht!“ brüllte sein Häscher, „das kleine Biest ist schlüpfrig wie ein Aal! Wie macht er das?“ Andere verhöhnten den Versager, fassten ebenfalls zu, – doch niemand bekam den Jungen zu fassen. Er sprang hin und her wie ein Funke, war bald mehr grüner Nebel als menschliche Gestalt und foppte sie bis zur Weißglut. Er zerrann ihnen zwischen den Fingern, rief ihnen Schmähworte zu, war einmal weit weg und dann wieder ganz nah, aber doch niemals greifbar. „Er ist ein schwarzer Magier!“ heulte jemand auf, „haltet ihn doch endlich! Auf den Scheiterhaufen mit ihm!“ Doch das war leichter gesagt als getan.

Silke war so vertieft in dieses Schauspiel, dass sie nicht merkte, wie jemand sich von hinten näherte. Zwei muskelbepackte Henkersknechte hatten sich in den Kerker geschlichen und packten sie von hinten. „Es ist Zeit.“ Das Blut hämmerte in ihrem Kopf, während sie ins Freie geschleppt wurde. ‚Nein!’ dachte sie verzweifelt, ‚es ist nicht Zeit! Es ist noch nicht Zeit! Wartet doch noch, nur ein wenig, es muss doch bald so weit sein!’ Doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sie war wie gelähmt vor Angst. „Her mit ihm!“ befahl der Henker mit donnernder Stimme, „soll er halt doch zuerst sterben. Um das Balg kümmern wir uns später.“
Silke spürte all die Püffe, die der fremde Körper auf seinem Weg durch die Menschenmenge zum Schafott abbekam. In keinem Gesicht war Mitleid, sie konnte überall nur Schadenfreude, Hass und Sensationsgier lesen. Schon war sie kurz vor dem Richtblock angelangt. Der Henker wog das schwere Beil in seiner Hand. Silkes Kreislauf versagte vor Angst. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen und es durchrieselte sie eiskalt. Kalt und heiß und wieder kalt und wieder heiß... Wann hatte sie das schon einmal verspürt?
Als ihr klar wurde, was mit ihr passierte, rannte sie blitzschnell los. Sie entschlüpfte den Händen, die ihre Arme gepackt hatten, da ihre Handgelenke plötzlich viel schmaler waren. Ehe die Umstehenden begreifen konnten, was vor sich ging, war sie in der Menge untergetaucht und suchte das Weite. „Wo ist Wullenwever?“ hörte sie aufgeregte Stimmen hinter sich schreien. „Er ist auch ein schwarzer Magier!“ kreischte jemand, „Gott steh uns bei!“ Eine allgemeine Panik breitete sich aus. Aber Silke, die ihre flinken Frauenbeine wieder hatte, sah sich nicht um. Sie rannte und rannte und rannte. Irgendwann sprang ihr Zanrelot in die Arme. „Keine Sekunde zu früh!“ keuchte er und stieß ein paar Zauberworte hervor. Mit dem Jungen zusammen flog Silke durch einen Wirbel aus Zeit. Hinter ihnen ergriffen sie Wullenwever, dessen Körper nun wieder eigenständig existierte. Aber sie mussten nicht mehr mit ansehen, was geschah.
Sie fühlte sich benommen, als sie auf dem Boden der unterirdischen Zentrale aufschlug. Ihre erste Amtshandlung, nachdem sie wieder zu sich gekommen war, bestand darin, sich aus Zanrelots Griff zu lösen. Es war etwas anderes, einen kleinen Jungen im Arm zu halten, als einen gestandenen Mann von fünfhundert Jahren! Auch wenn er aussah wie fünfzig, aber auch das hätte keinen Unterschied gemacht. Ihm selbst schien die Situation ebenso peinlich zu sein wie ihr. Hastig trat er ein paar Schritte zurück und wedelte mit der Hand über seinen schwarzen Umhang, als wollte er ihre Berührung abwischen. Er räusperte sich und sagte mit seiner wiedererlangten, sonoren Männerstimme: „Also, die Probe war positiv. Das war alles, was ich wissen wollte. Gehen wir zum Tagesgeschäft über. Matreus!“ „Meister?“ Diensteifrig war der junge Mann herbeigesprungen, ganz offensichtlich erleichtert, dass sein Herr wieder da war. „Habe ich irgendetwas verpasst? Dumme, kleine Anschläge der Wächter auf unsere Unterwelt oder dergleichen?“ „Nichts, Meister, es ist alles ruhig.“ „Dann sollten wir das ändern.“
Die Wächter! Silke erinnerte sich wieder an ihren Auftrag und versuchte, das eben Erlebte abzuschütteln. Wär doch gelacht, wenn sie das nicht ebenso mühelos könnte wie Zanrelot! Sie tastete nach den Fläschchen in ihren Hosentaschen. Sie waren noch da.
Zanrelot war an sein Computerterminal getreten und beobachtete auf dem Bildschirm die vier Kinder, die ihm so viel Ärger bereiteten. Offenbar fand er, dass er nun wieder an der Reihe sei, sie zu ärgern. „Geh hinauf in die Oberwelt“, befahl er seinem Diener, „und sieh zu, ob du die Wächter dieses Mal erwischen kannst! Einmal muss doch Schluss sein mit dem Katz-und-Maus-Spiel.“ „Ich werde mein Bestes geben!“ beteuerte Matreus unterwürfig, doch Zanrelot seufzte. Er machte sich nicht sehr viel Hoffnung, dass sein Schüler diesmal erfolgreicher sein würde als sonst. Wenn er nur selbst nicht durch den Fluch in dieser Zeit an die Unterwelt gebunden wäre und oben nach dem Rechten sehen könnte! ‚Alles muss man selber machen’, dachte er, ‚wenn man nur wenigstens könnte.’



Surviving Christmas
Für eine Flasche voll Zeit
Unter der Oberfläche
Der neue Wächter
Das absolute Böse
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© Stefanie Jaschek